Erschienen im "Neuen Deutschland" am 7. Juni 2013
Notunterkunft Gotteshaus
Ein Teil der obdachlosen Flüchtlinge in Hamburg findet
Zuflucht in einer Kirche
Von Folke Havekost, Hamburg
In Hamburg spitzt sich der Konflikt zwischen Kirche und Staat zu. Während der Senat
rund 300 afrikanische Flüchtlinge nach Italien zurückführen will, stellt Pastor Sieghard
Wilm gut 60 der bislang Obdachlosen sein Gotteshaus zur Verfügung. Am Donnerstag
besuchte Hamburgs evangelische Bischöfin Kirsten Fehrs dort die Flüchtlinge.
»Das ist kein Kirchenasyl«, sagt Pastor Wilm: »Wir leisten einfach humanitäre Nothilfe.« Decken
und Matratzen liegen in seiner St. Pauli-Kirche, nach der der berühmte Stadtteil benannt ist.
Gespendete Lebensmittel sorgen für das Nötigste. Seit Donnerstag gibt es einen Container mit
Sanitäranlagen.
Sieben Wochen lang lebten die überwiegend aus Westafrika stammenden Flüchtlinge in
Hamburg unter freiem Himmel. Sie waren aus Libyen geflohen, wo sie vor Beginn des
Bürgerkriegs Arbeit gefunden hatten, und kamen über die italienische Insel Lampedusa in die
Hansestadt. Der Senat wirft den italienischen Behörden vor, die Flüchtlinge mit Geld und
Touristenvisa ausgestattet zu haben, damit sie Lampedusa verließen. »Wer in einem Land
Aufnahme gefunden hat, darf nicht einfach in andere Länder weitergeschickt werden«, sagt
Bürgermeister Olaf Scholz in Einklang mit europäischen Rechtsvorschriften.
Wenn ihre Touristenvisa nach drei Monaten abgelaufen sind, müssten die Flüchtlinge ins
europäische »Erstland« Italien zurückkehren und dort um Asyl nachsuchen. Gegen die EUNormen
stehen 300 Menschen, deren Existenzgrundlage unter anderem durch die NATOIntervention
erschüttert worden ist. »Wir haben nicht den Krieg in Libyen überlebt, um auf
Hamburgs Straßen zu sterben«, ist als Graffito unter einer S-Bahn-Brücke im Schanzenviertel
geschrieben.
»Flüchtlingsschutz statt Flüchtlingsabwehr muss der Leitgedanke sein«, fordert die nordelbische
Bischöfin Kirsten Fehrs eine Überarbeitung der europäischen Asylpolitik. »Es braucht mehr
Flexibilität im deutschen und europäischen Flüchtlingsrecht«, erklärte Annegrethe Stoltenberg
vom Diakonischen Werk. Am Wochenende waren Gespräche zwischen Stadt und Kirche ohne
Ergebnis geblieben. Eine Schule in Langenhorn als Unterbringung wurde von der Kirche
abgelehnt, weil sie »an Bedingungen geknüpft war, die allein der Abschiebung dienen«, wie
Stoltenberg ausführte.
»Der Senat hat versucht, die Flüchtlinge in eine Abschiebefalle zu locken«, kritisiert LINKENLandessprecher
Bela Rogalla: »Sie sollten in der Schule nur Zuflucht finden dürfen, wenn sie
sich erkennungsdienstlich behandeln und registrieren lassen, um sie binnen vier Wochen in
einem Sammeltransport nach Italien abzuschieben.«
Die Flüchtlinge versuchen derweil, sich in ihrem prekären Status einzurichten. Die
Möglichkeiten, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, sind begrenzt. »Dabei möchten wir
arbeiten«, sagte der Malier Lassida dem epd. In Libyen war der Mittzwanziger als Verkäufer
tätig, nun lebt er von Almosen: »Wir sind keine Schmarotzer. Doch man erlaubt uns nicht,
eigenes Geld zu verdienen.« Am Sonnabend wollen die Flüchtlinge in der Innenstadt für ihre
Rechte demonstrieren.
Während Bischöfin Fehrs sich hinter Wilm stellt, sprach das »Hamburger Abendblatt« in einem
Kommentar von der St. Pauli-Kirche als »zweckentfremdetes Gotteshaus«. Dass Menschen in
Not zu helfen, kein Zweck einer Kirche sein sollte, dürfte nicht nur manchen Geistlichen
überraschen. Erst recht St. Pauli-Pastor Wilm, der die Tradition sozial engagierter
Gottesmänner wie Christian Arndt (Amtszeit 1979 - 2003) im Stadtteil fortführt.
Sein Vorhaben, eine Zeltstadt rund um die Kirche aufzubauen, wurde vom Kirchengemeinderat
aus Brandschutzgründen abgelehnt. »Die Kirche ist kein rechtsfreier Raum, auch wir müssen
uns an Vorgaben halten«, sagt Wilm, zeigt Beharrlichkeit und wünscht sich Unterstützung:
»Unser Angebot ist nicht befristet. Wir hoffen, dass weitere Gemeinden sich an der Aktion
beteiligen.«